Risikofaktor Wissensverlust

Von Martin Luckmann

Wissen ist in vielen deutschen Unternehmen der entscheidende Rohstoff. Anders als Maschinen oder Immobilien ist es jedoch an Menschen gebunden – an ihre Erfahrung, ihr implizites Know-how und an ihre Fähigkeit, dieses Wissen weiterzugeben. Mit dem absehbaren demografischen Wandel, zunehmender Fluktuation und einem oft unzureichenden Wissensmanagement rückt das Risiko des Wissensverlustes immer stärker in den Fokus. Vor allem mittelständische Unternehmen sind betroffen, da sie weniger systematische Dokumentationsprozesse und eine schwächere Nachwuchssicherung haben als Großunternehmen.

Branchen im besonderen Risiko

Besonders gefährdet sind Branchen, die stark auf implizites Expertenwissen angewiesen sind und in denen Nachwuchs fehlt. Hierzu zählen unter anderem:

  • Maschinen- und Anlagenbau: Viele Spezialmaschinen sind Unikate oder kundenspezifisch angepasst. Das Know-how steckt in den Köpfen einzelner Ingenieure, Konstrukteure und Monteure. Ohne erfahrene Meister und Ingenieure gehen Konstruktionskniffe, Wartungs-Tricks und Einfahrprozeduren verloren.
  • Automobilzulieferer & Fahrzeugbau: Produktionsverfahren und Werkzeugbau hängen meist vom Know-how einzelner Fachkräfte ab. Es droht ein Verlust von Fertigungskompetenz, gerade wenn Dokumentation nur rudimentär vorhanden ist.
  • Mittelständische Chemische Industrie: Rezepturen und Verfahren sind oft über Jahrzehnte optimiert und werden oft als „Betriebsgeheimnis“ gehütet und selten verschriftlicht. In der Folge droht das „geheime“ Erfahrungswissen über Mischungsverhältnisse, Temperaturführungen etc. zu verschwinden.
  • Bau- und Handwerksbranchen: Wissen über Verfahren, Baugrund, Materialeigenschaften oder traditionelle Techniken steckt häufig nur in den Köpfen erfahrener Poliere und Meister. Traditionelle Verfahren wie im Spezialtiefbau, im Denkmalschutz-Handwerk und im Schiffsbau gehen verloren.
  • Versorgungswirtschaft (Stadtwerke, Wasserwerke): Lokales Wissen über Infrastrukturen ist personengebunden und schlecht dokumentiert. Das Risiko für die Versorgungssicherheit steigt.

Der drohende Verlust dieses Wissens kann weitreichende Folgen haben: sinkende Innovationskraft, unsichere Produktionsprozesse, Qualitätsverluste und letztlich eine Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit.

Risikofaktoren im Überblick

Die Ursachen für Wissensverlust sind vielschichtig. Neben der demografischen Entwicklung wirken eine Reihe weiterer Faktoren:

  • Demografie: Überalterung, fehlende Nachfolgeplanung, Rentenwelle
  • Organisation: Abhängigkeit von Einzelpersonen, fehlende Übergabeprozesse, unzureichendes Onboarding
  • Technologie: Verlust von Legacy-Know-how, fehlende Standardisierung, unbegleitete Technologiewechsel
  • Prozesse: Projektwissen ohne Sicherung, Zeitdruck ohne Raum für Dokumentation
  • Kultur: „Wissen ist Macht“-Mentalität, implizite Wissensinseln, mangelnde Bereitschaft zum Teilen von Wissen
  • Externe Faktoren: Outsourcing ohne Wissenstransfer, regulatorische Änderungen, Fachkräfteabwanderung.

Diese Risikofaktoren wirken oft kumulativ – zum Beispiel wenn ältere Mitarbeitende gleichzeitig in Rente gehen und keine systematische Dokumentation vorliegt.

Branchen mit Wissensrisiken (Tabelle)

Kulturelle Unterschiede im Umgang mit Wissen

Zwischen den Branchen bestehen deutliche Unterschiede in der Wissenskultur. In offenen Wissenskulturen wie Wissenschaft, Pharmaforschung oder IT (Open Source) gehört das Teilen von Wissen zur Normalität und wird durch Publikationen, Patente oder internationale Standards institutionell gefördert. In geschlossenen Kulturen wie Handwerk, Maschinenbau oder Chemie dominiert dagegen die Logik „Wissen ist Macht“. Hier bleibt Wissen in Silos, wird als Betriebsgeheimnis gehütet oder nur in engen persönlichen Beziehungen weitergegeben.

Diese kulturelle Dimension ist entscheidend: Selbst bei gleicher Technologie und ähnlicher Altersstruktur ist das Risiko des Wissensverlustes deutlich höher, wenn Wissen nicht aktiv geteilt wird.

Risiko-Wissensverlust_Risikokumulation (Tabelle)

Einfluss regulatorischer Anforderungen

Regulatorische Rahmenbedingungen wirken ambivalent.

Positive Effekte: In hochregulierten Branchen (Finanzwesen, Pharma, Telekommunikation) erzwingen Dokumentationspflichten und Audits die Explizitmachung von Wissen. Dadurch sinkt das Risiko des Verlusts.

Negative Effekte: In weniger regulierten Bereichen (Handwerk, Bau, mittelständische Chemie) gibt es keine vergleichbaren Pflichten – hier bleibt Wissen personengebunden. Zudem besteht die Gefahr einer „Häkchen-Mentalität“, bei der zwar für Audits dokumentiert wird, aber ohne nachhaltige Nutzung im Unternehmen.

Gegensatzpaare: Verlustfaktoren vs. Resilienzfaktoren

Dem Risiko des Wissensverlusts lassen sich konkrete Resilienzstrategien entgegensetzen. Dazu lassen sich vier Handlungsfelder identifizieren:

  • Personal: Risiken sind Überalterung, Fluktuation und fehlende Nachfolge. Erhaltfaktoren sind Nachwuchsförderung, Mitarbeiterbindung und Mentoring.
  • Organisation: Gefährlich sind Abhängigkeiten von Einzelpersonen und fehlende Übergaben. Gegenmittel sind klare Verantwortlichkeiten, strukturierte Übergabeprozesse und Communities of Practice.
  • IT und Digitalisierung: Wissen geht verloren durch Legacy-Systeme, fehlende Standards und unbegleiteten Technologiewechsel. Wissenserhalt gelingt mit modernen Wissenssystemen, digitaler Dokumentation und KI-gestützter Strukturierung.
  • Kultur: Wissensverlust entsteht, wenn Wissen als Machtmittel gehütet wird. Wissenserhalt gelingt mit einer Kultur des Teilens, offener Kommunikation und Anerkennung für Wissensaustausch.
Wissensverlust versus Wissensgewinn - Quelle Community of Ki (Tabelle)

Diese Gegensatzpaare verdeutlichen: Wissenserhalt ist kein Zufall, sondern das Ergebnis bewusster Gestaltung.

Das Firmengedächtnis

Je besser es Firmen gelingt, Wissen zu erhalten und permanent zu aktualisieren, desto starker wächst ihre Wertschöpfung und desto besser funktioniert ihr “Gedächtnis”. Aber wie kann das gelingen?

Ein zentrales Element ist der bewusste Aufbau eines Firmengedächtnisses – also einer institutionellen Erinnerung, die nicht allein an Einzelpersonen gebunden ist. Hierbei spielen moderne Methoden wie KI-gestützte Experteninterviews eine entscheidende Rolle. Mit dem Ansatz der Community of KI wird implizites Wissen gezielt erfasst: Expertinnen und Experten werden strukturiert befragt, ihre Erfahrungswerte in einen dialogischen Prozess überführt und mit Unterstützung von KI so aufbereitet, dass es für andere Mitarbeitende nutzbar wird.

Das Besondere daran: Die Interviews machen auch stilles Erfahrungswissen sichtbar, das sonst im Tagesgeschäft verborgen bleibt. Die KI unterstützt bei der Strukturierung, Kategorisierung und Verknüpfung dieser Inhalte, so dass sie jederzeit gezielt abrufbar sind. Auf diese Weise entsteht ein lebendiges Gedächtnis, das Firmen nicht nur vor Wissensverlust schützt, sondern auch die Basis für Innovation, kontinuierliches Lernen und schnellere Einarbeitung neuer Mitarbeitender bildet.

Fazit

Das Risiko des Wissensverlustes ist für viele deutsche Unternehmen eine zentrale Herausforderung der nächsten Jahre. Besonders mittelständische Branchen, die auf implizitem Expertenwissen beruhen, sind gefährdet. Doch der Verlust ist kein unausweichliches Schicksal.

Mit einem gezielten Aufbau des Firmengedächtnisses – durch strukturierte Übergabeprozesse, Nachwuchssicherung und den Einsatz von KI-gestützten Experteninterviews – können Unternehmen ihr Wissen dauerhaft sichern. Damit wird nicht nur vorhandenes Know-how bewahrt, sondern auch eine Grundlage geschaffen, um Wissen laufend zu erneuern, zu verknüpfen und strategisch einzusetzen, als auch – wenn erforderlich – nicht benötigtes Wissen auch wieder zu „vergessen“.

So wird Wissen vom individuellen Schatz zur kollektiven Ressource, die die Innovationskraft stärkt, die Stabilität des Unternehmens sichert und die Zukunftsfähigkeit verbessert.


Literaturquellen (Auswahl)

Burstedde, Tiedemann: Bis 2028 fehlen 768.000 Fachkräfte – IW-Studie zu Fachkräftemangel und Beschäftigungsentwicklung, Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln); https://www.iwkoeln.de/presse/pressemitteilungen/alexander-burstedde-jurek-tiedemann-2028-fehlen-768000-fachkraefte.html (27.08.2025, 12:00)

Forschungsgruppe QuBe (BIBB/IAB/Universität Basel): Qualifikations- und Berufsfeldprojektionen (QuBe-Projekt) – Prognosen bis 2040; https://www.bibb.de/de/33212.php (27.08.2025, 12:05)

VDMA, Bereich Volkswirtschaft und Statistik: Fachkräftemangel – Herausforderung für Wachstum und Innovation im Maschinenbau; https://www.vdma.eu/documents/34570/4887563/KuPo_Fachkräftemangel.pdf/a0e24774-760e-55e9-93e6-43917311820c?t=1638184682215 (27.08.2025, 12:23)

Redaktion „Der Mittelstand. Das Unternehmermagazin“: Deutschlands Mittelstand ächzt unter dem Fachkräftemangel. Wertvolles Wissen geht verloren. (Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW)); https://www.bvmw.de/uploads/association/Presse/Magazin/2023/04-2023/Mittelstand_04-23.pdf (27.08.2025, 13:37)

Redaktion Markt und Mittelstand: Maschinenbau: Wissensabfluss bedroht den Standort Deutschland; https://www.marktundmittelstand.de/technologie/maschinenbau-wissensabfluss-deutschland (27.08.2025, 11:51)

Fraunhofer IAO: Einführung von Wissensmanagement – Wissensmanagement 2.0 im Mittelstand; https://www.businessmanagement.iao.fraunhofer.de/de/projekte/Industrieprojekte/EinfuehrungvonWissensmanagement.html?utm_source=chatgpt.com (27.08.2025, 12:04)

Verband der Chemischen Industrie (VCI) gemeinsam mit Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC): Bildungspolitische Positionen von VCI und BAVC – Fokus MINT (Chemie & Pharma); https://www.vci.de/themen/bildung/bildungspolitische-positionen-von-vci-und-bavc.jsp und https://chemanager-online.com/de/whitepaper/vci-studie-die-deutsche-chemische-industrie-2030 (27.08.2025, 11:24)

Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) in Kooperation mit Arthur D. Little: Umfrage zur Fachkräftesicherung in der Energie- und Wasserwirtschaft – Ergebnisbericht; https://www.bdew.de/media/original_images/2025/08/18/bdew-umfrage_fachkraftesicherungsicherung_ergebnisbericht.pdf (27.08.2025, 11:37)

Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI): Studie: Fachkräftemangel in Berufen der Halbleiterindustrie; https://www.zvei.org/presse-medien/publikationen/studie-fachkraeftemangel-in-berufen-der-halbleiterindustrie (27.08.2025, 12:38)