Martin Luckmann
Während viele Unternehmen noch an der Oberfläche der digitalen Transformation kratzen, stellt sich zunehmend die Frage, wie Künstliche Intelligenz (KI) nicht nur eingeführt, sondern tiefgreifend in die Organisation eingebettet werden kann. Gartner sagt voraus, dass über 40% aller aktuellen vorwiegend autonom agierenden KI-Anwendungen bis 2027 eingestellt werden (s. Gartner, 2025). Das Konzept „Organisational Embedded AI (OEAI)“ der Community of Ki adressiert genau diesen Anspruch: Es geht nicht um Pilotprojekte, nicht um lose Tools, sondern um KI als strukturprägenden Bestandteil einer lernenden, adaptiven Organisation.
Begriff und Hintergrund
Der Begriff „Organisational Embedded AI (OEAI)“ bezeichnet die systematische, tiefgreifende Integration von KI in die Strukturen, Prozesse, Rollen und Kulturen einer Organisation. Damit unterscheidet sich der Ansatz bewusst von technologisch getriebenen Einzelinitiativen. Stattdessen wird KI als sozio-technisches Element betrachtet, das in der Lage ist, organisationales Lernen, Entscheidungen, Innovation und Effizienz zu transformieren – vorausgesetzt, die Einbettung gelingt nachhaltig.
Das Konzept beruht auf vier Leitprinzipien:
1. Strukturelle Verankerung: KI wird in Geschäftsprozesse, Rollenbeschreibungen und Steuerungsmodelle integriert.
2. Prozessuale Kopplung: KI beeinflusst operative, taktische und strategische Abläufe.
3. Kulturelle Einbettung: Der Umgang mit KI wird Bestandteil der Unternehmenskultur, mitsamt ethischen Leitlinien.
4. Adaptivität und Co-Evolution: Mensch und KI entwickeln sich gemeinsam weiter – durch Feedback, Monitoring und Lernzyklen.
Kernbausteine des Konzepts
Das Konzept „Organisational Embedded AI“ lässt sich entlang sieben zentraler Bausteine strukturieren:
1. Zielklarheit: Der Einsatz von KI muss stets einem konkreten organisatorischen Ziel dienen – etwa der Verbesserung von Entscheidungsqualität, der Automatisierung repetitiver Aufgaben oder der Entlastung von Fachkräften.
2. Use-Case-Selektion: Die Auswahl geeigneter Anwendungsfälle ist entscheidend. Diese müssen nicht nur technisch machbar, sondern auch organisatorisch tragfähig und wirtschaftlich sinnvoll sein.
3. Technologische Infrastruktur: APIs, Plattformen, Datenräume und Modellbibliotheken müssen als Bestandteil der Organisation mitgedacht werden – nicht als Fremdkörper. Die technologische Basis bildet das Rückgrat jeder nachhaltigen KI-Integration.
4. Rollen und Verantwortlichkeiten: Neue Rollen wie der AI Product Owner, Data Steward oder Ethikbeauftragte entstehen und müssen klar definiert und in die bestehenden Governance-Strukturen eingebunden werden.
5. Change Management und Kommunikation: Mitarbeitende müssen geschult und in den Entwicklungsprozess eingebunden werden – nicht zuletzt, um Vertrauen, Verständnis und Akzeptanz für KI-basierte Veränderungen aufzubauen.
6. Governance und ethische Leitlinien: Es braucht verbindliche Regeln für einen verantwortungsvollen und rechtssicheren Umgang mit KI – insbesondere im Hinblick auf Transparenz, Nachvollziehbarkeit, Datenschutz und Fairness.
7. Monitoring und Feedback: Die Einführung von KPIs, Feedbackzyklen und Wirkungskontrollen ermöglicht eine lernende Organisation, in der sich KI-Systeme gemeinsam mit den Menschen weiterentwickeln.
Die Charakteristik der OEAI-Reifegradstufen
Das OEAI-Modell unterscheidet vier zentrale Reifegradstufen, die den Entwicklungsstand einer Organisation im Hinblick auf die Einbettung Künstlicher Intelligenz beschreiben. Jeder Reifegrad kennzeichnet einen qualitativen Sprung im Verhältnis zwischen Organisation und KI – von punktuellem Technikeinsatz bis hin zur strukturellen Transformation.

Die erste Stufe, Peripher, beschreibt Organisationen, in denen KI zwar bereits vorhanden ist, jedoch nur in niedrigschwelligen, unterstützenden Funktionen außerhalb der Kernprozesse eingesetzt wird. Typischerweise handelt es sich um Anwendungen in Marketing-Analytics, Übersetzungstools oder Chatbots – ohne direkten Einfluss auf wertschöpfende Prozesse.
Die zweite Stufe, Parallel, kennzeichnet den Zustand, in dem KI-Anwendungen bereits zur Unterstützung von Prozessen eingesetzt werden, dabei aber nicht tief in deren Struktur oder Ablauf eingreifen. Die KI arbeitet also neben der menschlichen Entscheidungs- oder Produktionslogik – zum Beispiel als Empfehlungssystem oder Voranalyse-Tool.
Auf der dritten Stufe, Integriert, ist KI aktiver Bestandteil zentraler Geschäftsprozesse. Hier kommt es zu einer echten Prozessintegration, bei der KI nicht nur unterstützt, sondern entscheidend mitwirkt oder Entscheidungen vorbereitet. Dies kann etwa im Bereich Predictive Maintenance, dynamischer Preisbildung oder bei automatisierter Ressourcenallokation der Fall sein.
Die vierte und höchste Reifegradstufe, Transformiert, beschreibt eine Organisation, in der KI nicht nur integriert, sondern auch mitsteuernd oder übernehmend in den Geschäftsprozessen agiert. Die KI prägt das Organisationsmodell aktiv mit und führt zu strukturellen Veränderungen – etwa in der Arbeitsorganisation, der Führungskultur oder im Geschäftsmodell selbst. Unternehmen in diesem Reifegrad sind durch eine hohe Adaptivität, datengetriebene Entscheidungen und ein hohes Maß an Automatisierung gekennzeichnet.
Die bewusst ausgeklammerte Stufe Ignoriert stellt keine Reifegradstufe im engeren Sinne dar, sondern beschreibt Organisationen, in denen KI entweder vollständig abgelehnt oder bewusst ausgeblendet wird. Sie wird im OEAI-Modell als Grauzone geführt, nicht als eigentlicher Reifegrad.
Vergleich mit bestehenden KI-Maturity-Modellen
Zahlreiche Frameworks versuchen, die Reife einer Organisation im Umgang mit KI zu messen. Doch nur wenige berücksichtigen die tiefe strukturelle Einbettung von KI.
Das MIT CISR-Modell legt den Schwerpunkt auf organisatorische Reife, Datenstrategie und Betriebsmodelle. Es weist strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Embedded-AI-Ansatz auf, behandelt jedoch kulturelle und adaptive Aspekte weniger tief. Das McKinsey-Modell wiederum fokussiert auf wirtschaftlichen Nutzen und Innovationsfähigkeit. Es bleibt allerdings eher an der Oberfläche, wenn es um Fragen der Prozessverankerung oder Governance geht.

Accenture stellt mit seinem Modell insbesondere die Führungsfähigkeit, den Technologieeinsatz und das Change Management in den Mittelpunkt. Der kulturelle Wandel wird dabei ähnlich ernst genommen wie im Embedded-AI-Konzept. Gartner hingegen bietet ein 5-Stufen-Modell – von der ersten KI-Awareness bis hin zur Transformational AI. Dieses Modell ist hilfreich, aber stark technologiegetrieben.
Ansätze wie AI-CAM oder AIMAA setzen auf eine systematische Bewertung von Use-Cases, Risiken und Governance-Fragen. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur technischen und ethischen Fundierung, lassen jedoch die tiefere Integration in organisationale Prozesse weitgehend offen.
Organisational Embedded AI hebt sich von all diesen Modellen dadurch ab, dass es die Verknüpfung von Technologie, Organisation, Kultur und Lernen in den Mittelpunkt stellt. Es betrachtet KI nicht als externes Werkzeug, sondern als integralen Bestandteil der Organisations-DNA.

Fazit
KI kann nur dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn sie nicht als Add-on, sondern als Teil der Organisation gedacht und gestaltet wird. Das Konzept „Organisational Embedded AI“ bietet einen ganzheitlichen Rahmen, um diese Integration zu erreichen – über technologische Fragen hinaus, hin zu einer dauerhaften Verankerung von KI im Handlungs-, Entscheidungs- und Wertekanon moderner Organisationen.
Damit wird aus KI nicht nur ein Innovationstool, sondern ein Wachstums- und Lernmotor, der die Organisation auf Dauer prägt.
Literaturquellen (Auswahl)
Gartner: Gartner Predicts Over 40% of Agentic AI Projects Will Be Canceled by End of 2027; https://www.gartner.com/en/newsroom/press-releases/2025-06-25-gartner-predicts-over-40-percent-of-agentic-ai-projects-will-be-canceled-by-end-of-2027; 25.06.2025 (02.09.2025 14:40)
LXT: The path to AI maturity – An executive survey; https://www.lxt.ai/path-ai-maturity/ (15.07.2025; 22:03)
Weill, Woerner, Sebastian: Building Enterprise AI Maturity; https://cisr.mit.edu/publication/2024_1201_EnterpriseAIMaturityModel_WeillWoernerSebastian (02.09.2025 14:30)
Luget, Asaftei, Roberts, Presten, Ottenbreit: Insights on responsible AI from the Global AI Trust Maturity Survey; https://www.mckinsey.com/capabilities/mckinsey-digital/our-insights/tech-forward/insights-on-responsible-ai-from-the-global-ai-trust-maturity-survey (02.09.2025 14:34)
Butler, Espinoza‑Limón, Seppälä: Towards a Capability Assessment Model for the Comprehension and Adoption of AI in Organisations; https://arxiv.org/abs/2305.15922 (02.09.2025 14:45)
Accenture: The art of AI maturity – Advancing from practice to performance; https://www.accenture.com/us-en/insights/artificial-intelligence/ai-maturity-and-transformation (02.09.2025 14:38)
Gartner: Gartner AI Maturity Model & Roadmap Toolkit https://www.gartner.com/en/chief-information-officer/research/ai-maturity-model-toolkit (02.09.2025 14:42)
Semsarpour: Gartner AI Maturity Model; https://medium.com/%40mohsen.semsarpour/gartner-ai-maturity-model-2c01fab629b6 (02.09.2025 14:40)
BMC Software: Gartner’s AI Maturity Model: Maximize Your Business Impact; https://www.bmc.com/blogs/ai-maturity-models/ (02.09.2025 17:30)
Reji: India leads the way in responsible AI maturity: McKinsey survey; https://economictimes.indiatimes.com/tech/artificial-intelligence/india-leads-the-way-in-responsible-ai-maturity-mckinsey-survey/articleshow/121417785.cms (02.09.2025 17:32)
AIMAA: AI Maturity Assessment and Alignment; https://aimaa.org/ (02.09.2025 14:48)
OWASP: AI Maturity Assessment; https://owasp.org/www-project-ai-maturity-assessment/ (02.09.2025 14:51)
