Das Experteninterview

von Dr. Bernhard von Guretzky

Das Experteninterview ist eine Forschungsmethode aus den Sozialwissenschaften und dient hier als Grundlage für das Offboarding mithilfe von KI. Bernhard von Guretzky beschreibt dessen Herleitung und Anwendung. Ziel des Experteninterviews ist es, das implizite Wissen von Expertinnen und Experten explizit zu machen. Dies geschieht mithilfe eines vorbereiteten Leitfadens. Neben der Auswahl geeigneter Personen sind die Qualitative Inhaltsanalyse und die Qualitätssicherung der Interviewergebnisse wesentliche Schritte für erfolgreichen Einsatz der Methodik.

1.          Einleitung

Die sozialwissenschaftliche Forschungsmethode qualitativer Experteninterviews ist geeignet, Einblicke in komplexe Fragestellungen und soziale Prozesse zu erhalten. Diese Methode ist besonders geeignet, Prozesse, Handlungen und Bedeutungen zu verstehen, die aus den subjektiven Erfahrungen der Akteure hervorgehen und spezifische Perspektiven und kontextabhängige Herausforderungen zu analysieren. Das Experteninterview hat das Ziel, sowohl »Kontextwissen« als auch »systemisches Wissen« zu erfassen. Das Kontextwissen bezieht sich auf die Bedingungen, Abhängigkeiten und das Umfeld. Das systemische Wissen hingegen, zu dem auch das organisationale und operative Wissen gehört, umfasst die spezifischen Kenntnisse und Routinen, die Experten in ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld erworben haben. Diese Unterscheidung ist essenziell, da sie die Art des Wissens, das durch das Interview gewonnen wird, beeinflusst und die Methodik der Datenauswertung bestimmt. Das Expertenwissen dient dazu, implizites Wissen des Experten explizit zu machen.

Diese Methode wird oft genutzt, da sie aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit dem Alltagsgespräch als natürlich erscheint. Hier muss jedoch differenziert werden, denn die Kommunikation im Interview unterscheidet sich deutlich von alltäglichen Gesprächen, da sie asymmetrisch ist: Der Interviewer nimmt die Rolle des Fragenden und Zuhörenden ein, während der Interviewte erzählt und antwortet.

Im Gegensatz zur qualitativen Forschung steht die quantitative Forschung. Während im ersteren Fall nur mit einer überschaubaren Zahl von Experten gearbeitet wird, gilt es im zweiten Fall darum, eine möglichst hohe Anzahl von Beteiligten anzusprechen. Hierbei werden die Ergebnisse nicht inhaltlich, sondern mit Hilfe statistischer Methoden ausgewertet. Geht es in der qualitativen Forschung darum, Hypothesen zu entwickeln, sollen mit der quantitativen Forschung Hypothesen getestet werden. Neben den Experteninterviews kann im ersten Fall auch eine Literaturrecherche zusammen mit einer entsprechenden Inhaltsanalyse zum Einsatz kommen; im zweiten Fall neben Umfragen auch Experimente oder die Entwicklung von Artefakten.

2.          Interviewleitfaden

Der erste Schritt bei der Durchführung von Experteninterviews ist die Festlegung dessen, was genau das Ziel des Interviews sein soll. Dazu gehört nicht nur die Thematik, sondern auch, ob damit neues Wissen generiert oder Hypothesen überprüft werden sollen. Im letzteren Fall sind Experteninterviews weniger geeignet; hier wären qualitative Umfragen sinnvoller (s.o.). Der Interviewleitfaden spiegelt also sowohl das Erkenntnisziel als auch die Thematik wider. Zum Festlegen der Reihenfolge der Fragen können verschiedene Ordnungskriterien Anwendung finden. Dabei sollte die Reihenfolge der Themenkomplexe nachvollziehbar sein und einer gewissen Argumentationslogik folgen. Während der Erhebung fungiert der Leitfaden primär als Gedächtnisstütze und nicht als „Skript“, das abgearbeitet wird.

Im ersten Block des Leitfadens werden Einstiegsfragen formuliert. Der Experte stellt sich und seinen beruflichen Hintergrund vor und gibt eine Übersicht über seine spezifischen Erfahrungen zum Themenkomplex. Damit wird der Themenkomplex umrissen und gleichzeitig auch eingegrenzt. Im zweiten Block wird mit Hilfe inhaltlicher Fragen versucht, verschiedene thematische Aspekte und inhaltliche wie organisatorische Probleme zu beschreiben, um ein möglichst umfassendes Bild zeichnen. Der letzte Block umfasst den Abschluss des Interviews. Dem Experten wird die Gelegenheit gegeben, sich zu noch nicht erwähnten Aspekten zu äußern und gegebenenfalls seine eigene Rolle als auch den Interviewverlauf zu reflektieren. Er kann darüber hinaus auch einen zusammenfassenden Eindruck der Thematik vermitteln und einen Ausblick auf künftige Entwicklungen geben. Dabei kann gegebenenfalls auf weitere, vertiefende Interviews verwiesen werden. Das würde man als »kaskadierende« Interviews bezeichnen. Schließlich kann der Experte Vergleiche mit eigenen Erfahrungen anstellen, die er in anderen Situationen und Kontexten schon gemacht hat.

Eine Gefahr bei Experteninterviews liegt in der Neigung mancher Interviewten, sozial erwünschte Antworten zu geben. Dies kann die Validität der gesammelten Daten beeinträchtigen. Deshalb ist es unerlässlich, das Interview so zu führen, dass die Experten die eigenen Sichtweisen und Erfahrungen ohne Druck äußern können. Dies kann etwa durch eine Paraphrasierung des Interviewers geschehen, indem Antworten mit eigenen Worten wiederholt werden, und der Interviewte diese bestätigt. Auch Perspektivwechsel können hierbei sinnvoll sein, zu denen der Interviewer ermuntert.

Die Rolle des Interviewers kann von einem Chatbot übernommen. Der Interviewleitfaden wäre dann Teil des Prompting. Deshalb ist es wichtig, in dem Leitfaden neben methodischen und inhaltlichen auch Fragen der Taxonomie aufzunehmen, um die Einordnung und den Rahmen des zu extrahierenden Wissens, sowie die betroffenen Rollen und Prozesse bestimmen zu können.

3.          Auswahl der Experten

Experten sollten aufgrund ihrer spezifischen Expertise für die zu untersuchende Thematik ausgewählt werden. Auch die Rolle und ihr Standing, die sie in dem Umfeld spielen, sollte berücksichtigt werden. Dabei wird auch in Abgrenzung zur quantitativen Befragung keine repräsentative Stichprobe angestrebt. Ziel ist es vielmehr, verschiedene Perspektiven zu integrieren. Dabei können drei verschiedene Wissensformen unterschieden werden: Die erste Wissensform beinhaltet das technische Wissen in Form von Daten, Fakten, Tatsachen oder sachdienlichen Informationen zum untersuchten Thema. Die zweite Wissensform ist das Prozesswissen, das aufgrund von Erfahrungen und persönlicher Nähe zum Thema generiert werden konnte. Es umfasst Handlungsabläufe, organisatorische Konstellationen oder Ergebnisse, in die der Experte involviert ist. Die dritte Wissensform umfasst das Deutungswissen. Hierzu zählen unter anderem Sichtweisen, Interpretationen, Deutungen sowie Erklärungsmuster.

Auch wenn die vom Experten vertretene Deutungsperspektive innerhalb eines bestimmten Umfeldes Zuspruch finden kann, ist stets davon auszugehen, dass es sich bei dieser Deutung um eine subjektive Perspektive handelt. Um ein Mindestmaß an Objektivität zu erhalten, sind also mehrere Experten zu befragen. Dabei ist für die Anzahl der Interviews die theoretische Sättigung bestimmend; diese ist erreicht, sobald kein wesentliches zusätzliches Wissen mehr gefunden werden kann.

Bei der Gesprächsführung muss der Interviewer auf einige möglicherweise auftretende Effekte und Verhaltensweisen des Interviewten achten, um die Intersubjektivität der Ergebnisse nicht zu verfälschen: So beschreibt etwa der »Paternalismuseffekt« eine demonstrative Gutmütigkeit gegenüber dem Interviewer, sodass dieser gegebenenfalls in eine passive Rolle gedrängt wird und von kritischen Nachfragen abgehalten werden soll. Hier sollte mit bewusst kritischen Fragen nachgesteuert werden. Der »Katharsiseffekt« umfasst die emotionale und ablenkende Beantwortung von Fragen. Antworten können vom Thema abschweifen, aber zugleich auch eine hohe Detailrate aufweisen. Auch ein Abdriften des Gesprächs in andere Kontexte wie etwa in eine private oder politische Richtung wäre nicht zielführend. Auch hier können Rückfragen und bewusstes Gegensteuern helfen, diese Entwicklung zu verhindern. Der dritte Effekt wird als »Eisbergeffekt« bezeichnet. Dabei zeigt der Experte ein offensichtliches Desinteresse oder ein bewusstes Zurückhalten von Informationen. Gründe hierfür können ein Fehlen von Expertenwissen oder eine unzureichende Vertrauensbasis zum Interviewer sein.

4.          Qualitative Inhaltsanalyse

Der gesamte Interviewverlauf muss protokolliert werden. Dies geschieht meist durch eine Transkription des Dialogs. Für die Transskription gibt es verschiedene Möglichkeiten: Handelt es sich um ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht, kann dies auditiv aufgezeichnet werden, damit es anschließend mit entsprechender Software transkribiert werden kann; handelt es sich um einen online geführten Dialog, kann mit Hilfe der Kommunikationswerkzeuge wie Teams oder Zoom direkt ein Protokoll erstellt werden; Gleiches gilt, falls ein Chatbot die Rolle des Interviewers übernehmen sollte.

Die so gewonnenen Protokolle können dann in derselben Weise genutzt werden wie Literatur in Texten und können damit auch methodisch ganz ähnlich analysiert, ausgewertet und zitiert werden, wie es bei der Literaturrecherche üblich ist. Ob also ein Experteninterview in Form von Protokollen durchgeführt wird oder eine Auswertung wissenschaftlicher Quellen, in beiden Fällen müssen diese Quellen analysiert werden, inwieweit die enthaltenen Informationen für das Untersuchungsziel nützlich sind:

Im ersten Schritt ist ein sog. »Kategoriensystem« zu entwickeln, in das das zu analysierende Material eingeordnet werden kann. Kategorien sollten induktiv aus dem vorliegenden Material entwickelt oder deduktiv begründet und konsistent angewendet werden. Als Grundlage dafür dient der Leitfaden, weshalb dieser Prozess als deduktive Kategorienbildung bezeichnet wird. Das Kategoriensystem bietet gewissermaßen eine Metastruktur für die diversen Textstellen. Sie ist die Voraussetzung, um eine klare und strukturierte Auswertung zu gewährleisten. Der Sinn der Kategorien ist es, die zunächst unstrukturierten Daten in analysierbare Einheiten zu zerlegen, ohne die ursprüngliche Bedeutung der Aussagen zu verlieren. Dieser Vorgang wird als »qualitative Inhaltsanalyse« bezeichnet: Sie wird in mehreren Schritten durchgeführt. Dabei stehen drei Grundformen zur Verfügung:

  • Bei der »zusammenfassenden« Inhaltsanalyse wird das zu untersuchende Material auf einen Kurztext komprimiert, indem etwa inhaltstragende Textstellen paraphrasiert werden. Hierbei bleiben nur die wesentlichen Inhalte erhalten. Auf dieser Basis kann ein übersichtlicher Korpus des gesammelten Materials erstellt werden. Die zusammenfassende Form der qualitativen Inhaltsanalyse ist besonders im Falle der Erforschung der inhaltlichen Ebene des Materials heranzuziehen.
  • Die »explizierende« Inhaltsanalyse ist das Gegenteil der zusammenfassenden Methode. Bei unklaren Passagen des Textes wird zusätzliches Material herangezogen, um Wissenslücken gezielt zu schließen. Das Explikationsmaterial wird dabei systematisch und kontrolliert gesammelt.
  • Die »strukturierende« Inhaltsanalyse hat das Ziel, das Material anhand vorab festgelegter Kriterien zu bewerten. Sie eignet sich besonders, wenn das Material nach spezifischen Aspekten oder Kategorien untersucht werden soll. Sie wird genutzt, um das Material gezielt zu ordnen und nach definierten Kriterien zu analysieren. Bei den Analyseeinheiten wird zwischen einzelnen Wörtern, Sätzen oder Absätzen differenziert.

Im zweiten Schritt, der »Kodierung«, erfolgt die Ergebnisinterpretation. Dabei werden bestimmte Textstellen thematisch kategorisiert, um wiederkehrende Muster und Zusammenhänge zu identifizieren. Dabei können auch nachträglich noch Kategorien gebildet werden, die aus dem transkribierten Interview abgeleitet werden. Diesen Prozess bezeichnet man als induktive Kategorienbildung. Somit erhält man eine Struktur des gesamten Textes, in dem sich die wesentlichen Inhalte des Interviews in einer überschaubaren Zahl von Aussagen wiederfinden.

5.          Qualitätssicherung

Naturgemäß ist der Kodierungsprozess subjektiv. Um subjektive Verzerrungen und Präferenzen zu minimieren, muss das Vorgehen hierbei nachvollziehbar und offen dargelegt sein. Die Abweichungen, die bei einer erneuten Ausführung des Kodierungsprozesses durch eine andere Person auftreten, sind zu minimieren. Dies kann beispielsweise dadurch erreicht werden, dass das Interview mit weiteren Experten auf der Basis desselben Leitfadens wiederholt wird. Führt dieses Vorgehen zu vergleichbaren Ergebnissen, so gilt der Prozess als valide. Eine solche Reproduzierbarkeit von Messungen ist Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens. Neben der Validität sind Vollständigkeit, Reliabilität und Objektivität weitere Gütekriterien für die Inhaltsanalyse.

Unter Vollständigkeit spricht man in diesem Zusammenhang, wenn alle relevanten Aspekte des Themas im Interview in einem vorher festgelegten Detaillierungsgrad abgedeckt worden sind. Dies ist keine triviale Forderung, denn es kann durchaus passieren, dass erst während des Interviews zusätzliche Fragen auftauchen, die vorher in dem Leitfaden nicht berücksichtigt wurden. Deshalb gilt, den Interviewleitfaden nicht sklavisch abzuarbeiten, sondern sich und dem Interviewten die Möglichkeit für offene Nachfragen zu geben.

Unter Reliabilität versteht man die Überprüfung der Richtigkeit und Nachvollziehbarkeit der Beschreibung. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil die Antworten des Interviewten nicht standardisiert und kontextabhängig sind. Die Reliabilität sollte in einem Pretest mit einer zur Zielgruppe vergleichbaren Person erprobt werden, um gegebenenfalls Verbesserungen des Leitfadens vorzunehmen.

Unter der Objektivität versteht man die Unabhängigkeit von den Rahmenbedingen: die subjektiven Einflüsse der Forschenden sollen vernachlässigbar sein. Dies geschieht durch die Reflexion und Offenlegung der eigenen Vorannahmen und eine nicht suggestive Gesprächsführung. Auch die Art und Weise wie die Kategorien gebildet und die Interviews ausgewertet werden, muss nachvollziehbar und transparent sein.

Die Interviews sind entweder per Audioaufnahme oder als Text zu transkribieren, um den Inhalt korrekt und nachvollziehbar festzuhalten. Dazu benötigt es eine Einverständniserklärung des Interviewten, in der ihm Anonymität, Schutz der personenbezogenen Daten und eine sensible Handhabung der Informationen zugesichert wird. Für ein erfolgreiches Interview benötigt der Interviewer schließlich Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit zum aktiven Zuhören und ein vertrauensvolles Gesprächsklima zu schaffen.

6.          Literatur

  • Kuckartz, U. (2018): „Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung„; Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
  • Mayring, P. (2010): „Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken„; Weinheim und Basel: Beltz Juventa.